Wirtschaft, Bevölkerung, Reiselust: In China macht sich eine wachsende Mittelschicht auf den Weg, die Welt zu entdecken. Ein ähnliches Fernweh-Phänomen verzeichnete Europa in den 60er-Jahren. Beschleunigt durch den technologischen Wandel erlebt China die Tourismusentwicklung jedoch nicht als Wiederholung, sondern vielmehr im digitalen Zeitraffer.
10 Uhr morgens in Peking: Die Telefonkonferenz startet wie ein chinesischer Hochgeschwindigkeitszug. Mit atemberaubendem Tempo sausen Nancy Huangs chinesische Erläuterungen durch die Leitung, als wollten ihre Worte mit der Entwicklung des gesamten Landes Schritt halten. „Ich spreche selbst für eine Chinesin sehr schnell“, lacht die TUI-Managerin anschließend. In den Augen des Terrakottakriegers, der über den Besprechungsraum von TUI China wacht, dürfte einiges an Neuland dabei gewesen sein. Denn das Gespräch drehte sich um die Zukunft des chinesischen Reisegeschäfts und die neuen Online-Vertriebswege. Es herrscht Aufbruchstimmung in der chinesischen Mittelschicht und TUI bringt sich in Startposition, um die neuen Zielgruppen in den wohlverdienten Urlaub zu bringen.
Vom Incoming- zum Outbound-Geschäft
Ein Hochhaus im Herzen Pekings beherbergt die Büroräume von TUI China. Rund 100 Mitarbeiter arbeiten hier. Ein Großteil betreut die rund 25.000 einreisenden Touristen aus Europa oder organisiert Veranstaltungen und Incentives für große Unternehmen. Doch daneben befindet sich ein neuer Geschäftsbereich im Aufwind, das so genannte Outbound-Business. Nancy Huang leitet das Team, das seit kurzem Reisen für chinesische Gäste ins In- und Ausland vermittelt. Wie fast alle Mitarbeiter von TUI China trägt sie im Arbeitsleben einen westlichen Vornamen, der für internationale Geschäftspartner einfacher auszusprechen ist. Der Name und ihre Englischkenntnisse erleichtern den Austausch mit Ansprechpartnern aus aller Welt, um Reiseangebote für chinesische Touristen zusammenzustellen. Entscheidend für den Einstieg in einen neuen Markt ist jedoch die richtige Vertriebsstruktur. In China kooperiert TUI daher mit Fliggy, der Reiseplattform des führenden Online-Händlers Alibaba.
MENSCHEN LEBEN IN CHINA
Der digitale Markteintritt
Der Ansatz, den TUI China mit ihrer Präsenz auf der Plattform Fliggy verfolgt, hat wenig mit traditionellem Reiseveranstaltergeschäft zu tun. Die Reisebüro-Landschaft in China ist stark fragmentiert und verspricht nur geringe Margen. Die Zukunft liegt hingegen im Online-Vertrieb, der doppelt so schnell wächst wie das Offline-Geschäft. Noch gibt auch hier der chinesische Marktführer Ctrip den Ton an, doch seine Vorgehensweise fördert zugleich einen starken Preiskampf. TUI verfolgt daher eine alternative Strategie und setzt auf einen erfahrenen Marktplatzbetreiber mit bewährtem Zahlungskonzept, um eigene Produkte zu platzieren. „Seit November 2016 haben wir eine eigene TUI-Präsenz auf Fliggy.com, auf der wir unsere Reisen anbieten und etwas über unsere Marke erzählen“, sagt Nancy. Die Kunden finden dort Rundreisen oder können Urlaub in einem der TUI-Resorts buchen. Der Vertrieb auf der Plattform ist noch in der Erprobungsphase, dennoch haben sich die Besucherzahlen seit dem Start im vergangenen Jahr mehr als verdreifacht. „Viele Kunden erreichen uns dabei auch über Taobao, den größten Online-Marktplatz Chinas. Er gehört ebenfalls zum Alibaba-Konzern und ist mit Fliggy verbunden“, erläutert Nancy den Zustrom. „Auf diese Weise nutzen wir die Vertriebsstärke beider Plattformen, um auf uns aufmerksam zu machen.“ Doch die bisherige Angebotspalette ist nur ein Aufwärmtraining für die nächste Phase des Wachstumsplans, den TUI für mehrere Märkte entwickelt hat.
Neue Märkte, neue Kunden
Nicht nur in China boomt der Tourismus, auch in Ländern wie Indien und Brasilien wächst der Wohlstand und damit die Reisebranche. Genau hier kann TUI als weltweit größter Touristikkonzern ansetzen und noch mehr Menschen unvergessliche Urlaubserlebnisse ermöglichen. Geplant ist die globale Expansion der Marke TUI, mit dem Ziel, in den nächsten fünf Jahren eine Milliarde zusätzlichen Umsatz zu generieren und eine Million neue Kunden zu erreichen. Dabei ist das Geschäft nicht mit anderen Branchen oder Industrien vergleichbar, die in Asien oder Südamerika ihre Produkte vertreiben. Touristik bedeutet Service und Dienstleistung, aber auch entsprechend niedrige Margen und das Fehlen von Spielraum für hohe Vorlaufkosten. Neue Märkte werden daher auf der Basis einer standardisierten, einheitlichen Softwarearchitektur erschlossen, welche die Markteintrittschancen erheblich erhöht. Die Geschäftsabläufe sind damit weitgehend digitalisiert und standardisiert. Auch TUI China wird diese Software künftig nutzen. Sobald sie „Chinesisch gelernt hat“, wird eine Schnittstelle zu Fliggy entwickelt, um die vielfältigen Reiseprodukte des Konzerns auf der Vertriebsplattform ausspielen zu können.
CHINESEN REISTEN 2016 INS AUSLAND
Chinesische Dimensionen
Um das Potenzial Chinas zu erfassen, muss man den Blickwinkel ändern. „Gerade mal zehn Prozent der Chinesen haben einen Reisepass“, erläutert Guido Brettschneider, Geschäftsführer von TUI China. „Dennoch ist diese Zielgruppe riesig, schließlich befinden wir uns hier im bevölkerungsreichsten Land der Erde.“ Die Dimensionen sind beeindruckend: Mit 1,38 Mrd. Menschen hat China mehr als doppelt so viele Einwohner wie ganz Europa. Allein im letzten Jahr reisten knapp 50 Millionen Chinesen ins Ausland. Auch die Bereitschaft, online zu buchen, ist enorm. Der Anteil steigt nicht nur beständig, mehr als die Hälfte aller Online-Reisekäufe erfolgen sogar bereits mobil. Gefördert wird dieser Trend durch die Handynutzung im Alltag. „Mit meinem Mobiltelefon kann ich mir ein Fahrrad an einer der zahlreiche Stationen in der Stadt ausleihen und mit meiner WeChat-App bequem im Restaurant bezahlen“, erklärt Nancy Huang. In Europa ein eher ungewöhnlicher Zahlungsweg, schließlich ist WeChat das chinesische Pendant für WhatsApp und Twitter.
DER GÄSTE IM ROBINSON CLUB MALDIVES SIND SCHON HEUTE ASIATEN
Fernöstliche Reisevorlieben
Vielen ausländischen Firmen fällt es schwer, die Bedürfnisse und Verhaltensweisen asiatischer Kunden zu verstehen (siehe auch Interview mit Nancy Huang). Noch verreist ein Großteil der Chinesen daher vorrangig im eigenen Land: Hongkong und Macau sind die beliebtesten Urlaubsdestinationen. Dahinter folgen nahe Ziele im asiatischen Raum, wie Thailand, Südkorea oder Japan. In diesem Radius von vier oder fünf Flugstunden liegt jedoch auch die Chance für die TUI-eigenen Hotels. Der erste Robinson Club auf den Malediven wird schon heute zu rund 50 Prozent von Asiaten gebucht. Zusätzliches chinesisches Essen am Buffet und Mandarin sprechendes Personal führen zu Weiterempfehlungen. Ein guter Nebeneffekt für die Hotels: Die Chinesen reisen zu anderen Zeiten als die Europäer und sorgen für eine gleichmäßige Auslastung. Hauptreisezeit sind das chinesische Neujahr im Januar oder Februar und die Herbstferien im Oktober. Der neuen Generation chinesischer Urlauber geht es zudem um Prestige, beispielsweise um große, repräsentative Zimmer, kulinarische Highlights und besondere Erlebnisse, die sich in Urlaubsfotos festhalten lassen. Nancy steht dafür bereits in den Startlöchern: „Wir prüfen gerade, wie wir die beiden neuen Robinson Clubs in Thailand und auf den Malediven bei Fliggy optimal in Szene setzen.“ Mit ihrem Handy in der Hand ist sie schon auf dem Weg zum nächsten Termin. Der chinesische Tourismus wartet nicht.
3 Fragen an
»In China haben wir wenig Urlaub, die Zeit muss gut genutzt werden. Gruppenrundreisen sind deswegen immer noch aktuell, aber die Vorlieben ändern sich.«